Diktatur als Mythenerzählung

Die Autorin und Zeitzeugin Ines Geipel thematisiert den Umgang mit der DDR-Geschichte und der politischen Gegenwart in ihrem Vortrag an der Bischof-Neumann-Schule in Königstein.

Am Donnerstag, dem 15. Juni 2023, hielt die Zeitzeugin und Autorin Frau Prof. Dr. Ines Geipel vor Schülerinnen und Schülern sowie Lehrkräften und externen Besuchern einen Vortrag, in welchem sie insbesondere die Erfahrung der Diktatur und den unschätzbaren Wert der Freiheit herausstellte. 

Im Rahmen des Gedenkens an den 17. Juni 1953 beleuchtete die profilierte Expertin für die Aufarbeitung deutscher Geschichte die Verbindung zwischen der einstigen Herrschaft der SED und dem Erstarken des Rechtsextremismus in der Gegenwart.
Im Zentrum ihres Vortrages stand ihr 2019 erschienenes Buch „Umkämpfte Zone - Mein Bruder, der Osten und der Hass“, welches eine persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und den aktuellen, mit dem Erstarken des Rechtsextremismus einhergehenden, politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen darstellt.
Die Autorin erklärte, wie wichtig es sei, die individuellen Erfahrungen der Menschen nachvollziehen zu können, um den gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext des Rechtsextremismus zu begreifen. Bezugnehmend auf ihre eigene Herkunft verwehrte sie sich dagegen, als Bürgerin der ehemaligen DDR auf den Status der „Abgehängten“ reduziert zu werden und hob den unschätzbar hohen Wert einer Geschichte hervor, die sie auch als eine Geschichte der Erneuerungsversuche verstanden wissen möchte. In Ereignissen wie dem Fall der Mauer, dem Sturz des SED-Regimes oder auch dem Prager Frühling - „1968 im Osten“, so Ines Geipel - seien Momente der Geschichte zu erblicken, welche Ausgangspunkt einer positiven Kultur der Identität sein könnten.
Dass dies leider nicht selbstverständlicher Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit geworden sei, erklärt die Autorin auch mit einer falschen Aufarbeitung der Erfahrungen mit dem SED-Regime und des Bruches mit der Diktatur einzelner Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR. Dieses System, so Ines Geipel, habe stets durch Narrative und Mythenerzählungen eine Legitimität zu konstruieren versucht, welche den verbrecherischen Charakter des Regimes nach innen und nach außen verschleiern sollte.
Im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern ging die Referentin auf sehr unterschiedliche Themen ein. So berichtete sie von ihrer Erfahrung mit dem System des staatlichen Zwangsdopings in ihrer Rolle als Hochleistungssportlerin und von ihrem Kampf um Aufarbeitung und Wiedergutmachung für die Betroffenen. Sie erläuterte, wie sie ins Visier der Staatssicherheitsbehörden geriet und schließlich in die Bundesrepublik fliehen konnte. Auf die Frage einer Schülerin, welchen Beitrag die Politik für die geschichtliche Aufarbeitung leisten könne, erklärte Frau Geipel, dass dies ein Gegenstand sei, für den wir uns alle verantwortlich zeichnen sollten: „Geschichte ist Hartbrot“, so die Referentin. Wir seien gemeinsam dafür verantwortlich, die Vergangenheit genau zu analysieren und unsere Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Fatal könne es hingegen sein, dies Institutionen zu überlassen, um sich selbst aus dem Thema „Aufarbeitung“ bequem herauszuhalten. „Geschichte darf uns nicht wegrutschen“, so ihr Appell an die Zuhörenden.

Der Vortrag zeigte auf eindrückliche Weise, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zusammengehören. Die Zuhörerinnen und Zuhörer konnten einem lebendigen und bewegenden Vortrag beiwohnen, der auch beispielhaft verdeutlichte, dass Geschichte nicht museal-angestaubt erscheinen muss, sondern unser aller Lebenswelt betrifft und darüber hinaus uns immer wieder zur aktiven Auseinandersetzung, zum Diskurs und zum verantwortungsbewussten Handeln auffordert, um Werte wie Demokratie, Individualität, Selbstbestimmung und Freiheit zu bewahren und für sie einzustehen.

Patrick Seiler


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